Mr. Dickson, wie sind die wirtschaftlichen Aussichten für die Windenergie-Unternehmen in Europa?
Hier gilt es zu unterscheiden zwischen den langfristigen Aussichten und den unmittelbaren Aussichten für die kommenden 2–3 Jahre.
Wenn wir etwas weiter in die Zukunft schauen, steht fest: Die Windenergie wird zur zentralen Säule des europäischen Energiesystems aufsteigen. Dieses Energiesystem wird in der Zukunft in weiten Teilen elektrifiziert sein. Derzeit macht Strom nur 25 % des europäischen Energieverbrauchs aus. Die übrigen 75 % stammen weitestgehend aus fossilen Brennstoffen: das Benzin in unseren Autos, das Gas in unseren Heizungen, das Kerosin in unseren Flugzeugen etc. Das wird sich sehr schnell ändern. Bereits im Jahr 2050 werden 75 % des europäischen Energiesystems auf Strom basieren. 57 % des Energieverbrauchs werden dann direkt elektrifiziert sein, etwa durch E-Mobilität oder Wärmepumpen. Weitere 18 % werden indirekt elektrifiziert, etwa durch erneuerbaren Wasserstoff. Windenergie wird zur wichtigsten Stromquelle in der EU aufsteigen. Im Jahr 2050 werden 50 % des Stroms in der EU von Windenergieanlagen erzeugt werden, heute sind es lediglich 15 %. Dafür werden wir die installierte Windener-gieleistung von heute weniger als 200 GW auf 1.300 GW im Jahr 2050 erhöhen. Das sind ideale Aussichten für Unternehmen und Investoren.
… und wie steht es um die derzeitige Lage der Branche?
Kurzfristig gestaltet sich die Situation wesentlich komplizierter. Die europäische Windenergiebranche sieht sich einer Vielzahl von überlappenden Herausforderungen gegenüber: der Unterbrechung internationaler Handelsketten im Zuge der COVID 19-Pandemie, steigender Rohstoff- und Logistikkosten, dem Krieg in der Ukraine und damit einhergehend den Sanktionen auf russische Importe. All das erzeugt zusätzliche Kosten für unsere Unternehmen, die bereits vor diesen externen Schocks mit kleinen Margen arbeiten mussten. Das Resultat: Keiner der fünf europäischen Hersteller von Windenergieanlagen macht derzeit Gewinn – eine Situation, die sich schnellstmöglich ändern muss, wenn wir die Energiewende mit Technologie aus Deutschland und Europa vollziehen wollen. Das erfordert kluge Handels- und Industriepolitik, mehr Genehmigungen für neue Windenergieprojekte und eine gezielte Förderung der europäischen Wertschöpfungskette. Und damit noch nicht genug: Digitalisierung, Fachkräftemangel und Ressourcenabhängigkeit sind weitere Themen, die im Zuge des Ausbaus der Windenergie bis 2050 angegangen werden müssen.
Was ist die größte Herausforderung: Fachkräftebedarf, reißende Lieferket-ten oder doch nationale (bürokratische) Vorgaben?
Eine gute Frage. Sicherlich muss die Branche alle drei Herausforderungen angehen. Ohne Genehmigungen für neue Windparks braucht es aber weder Rohstoffe und Komponenten noch zusätzliches Personal. Die schleppende Genehmigungssituation ist und bleibt die größte Herausforderung auf dem Weg zur Erreichung der Erneuerbaren-Ziele der EU. Genehmigungsverfahren dauern zu lang und sind zu komplex. Die bearbeitenden Behörden müssen dringend digitalisiert und personell aufgerüstet werden, um die zu erwartende Welle an Genehmigungsanträgen effizient bearbei-ten zu können. In Deutschland wurden im europäischen Vergleich bereits einige Fortschritte gemacht. Der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat einen Aktionsplan Genehmigungen vorgelegt. Sein Nachfolger Robert Habeck hat mit dem Osterpaket bereits einige Hürden abgeräumt. Im Sommerpaket gilt es nun die verbleibenden Hindernisse anzugehen. Dabei wird nicht zuletzt die Balance zwischen Windenergieausbau
und Natur- und Artenschutz im Vordergrund stehen. Zudem sollte die Bundesregierung die sehr guten Vorschläge der EU-Kommission aus dem REPowerEU Action Plan schnellstmöglich umsetzen.
Was kann die Branche gegen diese Missstände tun – oder ist hier eher die Politik gefordert?
Der Fachkräftemangel und die Lieferkettenproblematik können in großen Teilen durch die Branche angegangen werden, etwa durch gezielte Kam-pagnen in Schulen und Hochschulen oder durch eine Neuausrichtung der internationalen Lieferketten und eine Stärkung des europäischen Zulie-ferermarkts. Aber auch die Regierungen sind gefragt: Lehrpläne müssen angepasst und junge Kinder von früh an für technische Berufe begeistert werden. Die Universitäten müssen ihre Studiengänge noch stärker am tatsächlichen Bedarf windenergiespezifischer Qualifikationen ausrichten. In Sachen Genehmigungsverfahren liegt die Verantwortung ganz klar bei der Politik. Ambitionierte Ausbauziele allein reichen nicht aus. Ohne ausreichend neue Genehmigungen sind diese Ziele nicht erreichbar.
Das Interview erschien zuerst im BWE BetreiberBrief 4-2022.