Der gesamte deutsche Energiebedarf ließe sich innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre ausschließlich mit erneuerbaren Energien decken. Das ist die zentrale Erkenntnis einer aktuellen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), für die die EnergieökonomInnen Claudia Kemfert, Christian von Hirschhausen, Mario Kendziorski und Leonard Göke Szenarien einer Vollversorgung durch Photovoltaik, Windkraft und andere Erneuerbare berechnet haben. „100 Prozent erneuerbare Energien sind technisch möglich und ökonomisch effizient – und vor allem dringend nötig, um die europäischen Klimaschutzziele erreichen zu können“, sagt Claudia Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin.
Den Berechnungen zufolge könnte nicht nur die Stromnachfrage, sondern die gesamte Energienachfrage hierzulande mit Erneuerbaren gesichert werden. Auch europaweit würden dann keine fossilen Energieträger oder Kernkraft mehr verwendet. Voraussetzung dafür ist, dass das Ausbautempo in Deutschland stark gesteigert wird, sowohl bei der Wind- als auch bei der Solarenergie. Im Fall einer Vollversorgung mit Erneuerbaren würde die Stromnachfrage in Deutschland aufgrund des Trends zur Elektrifizierung stark steigen und bei über 1 000 statt gut 500 Terawattstunden (im Jahr 2018) liegen. Dafür wäre der gesamte Energieverbrauch mit gut 1 200 Terawattstunden im Vergleich zu knapp 2 600 im Jahr 2018 weniger als halb so hoch.
Einbindung in europäisches Stromnetz bleibt Pfeiler des Energiesystems
In der Studie wurden zwei Szenarien berechnet, die einen erneuerbaren Erzeugungsmix in ganz Europa beinhalten und sowohl Strom als auch Wärme und den Transport – die sogenannten Sektorenkopplung – berücksichtigen. Das integrierte Szenario, das den Ausbau der Erzeugungs- und Speicherkapazitäten in Verbindung mit dem nötigen Netzausbau betrachtet und eine Balance zwischen beidem anstrebt, ist dabei dem desintegrierten Szenario überlegen: In ersterem wird die Energie näher an den VerbraucherInnen erzeugt, was etwa den Bedarf an Batteriespeichern und Stromleitungen reduziert.
„Durch die Berücksichtigung von Netzausbaukosten würde die regionale Gleichverteilung von Erzeugung und Verbrauch im Vergleich zu heute gestärkt werden“, erklärt Christian von Hirschhausen, DIW-Forschungsdirektor für internationale Infrastrukturpolitik und Industrieökonomie. „Es ist kein Naturgesetz, dass der Windstrom nur aus dem Norden kommen kann und von dort in den Süden transportiert werden muss. Das Potenzial für erneuerbare Energien ist in allen Regionen in Deutschland vorhanden, es wird bisher nur sehr ungleich genutzt“, so von Hirschhausen. Entsprechend müsste beispielsweise die Windkraft an Land am stärksten in Süddeutschland ausgebaut werden.
Trotz der dezentraleren Erzeugungs- und Speicherstrukturen wäre die Einbindung in das europäische Stromnetz weiterhin möglich und wichtig, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Dass diese bei einer Vollversorgung mit erneuerbaren Energien nicht gefährdet ist, berechneten die ForscherInnen exemplarisch anhand der Stromerzeugung und des Stromverbrauchs im Winter zum Zeitpunkt der niedrigsten Einspeisung von Photovoltaik und Windstrom.
Enge und koordinierte Zusammenarbeit auf allen Ebenen nötig
Um dem Ziel einer Vollversorgung durch erneuerbare Energien schnell näher zu kommen, müssen EU-, Bundes- und Landesebene enger und koordinierter zusammenarbeiten. 100-Prozent-Erneuerbare-Szenarien sollten in die Planung des gesamten Energiesystems einbezogen werden, vor allem in die Netzplanung – sowohl für Deutschland als auch für Europa. Vor allem auf europäischer Ebene sei die Anpassung der laufenden Zehn-Jahres-Entwicklungspläne besonders dringend, da diese nach wie vor erhebliche fossile Kapazitäten und Kernkraft vorsehen. Auch der Netzentwicklungsplan in Deutschland basiert nach wie vor auf einem hohen Anteil fossiler Erdgasverstromung. „Das sind die Schatten einer Energiepolitik von gestern – nun müssen wir dringend auf Morgen umschalten“, so Kemfert.